Vorgestern Abend hatte mich uhug angerufen und quasi ihr Unverständnis geäußert, wie es denn sein könne, daß sie mich Mitte Mai in Triest zurückgelassen habe und ich immer noch nicht am Ziel sei. Da dürfte sie ja mit dem Fahrrad schneller ihren München-Venedig-Cache-Ausflug auf Etappen abgeschlossen haben und wieder nach Hause zurückgekehrt sein.
Ich habe das - natürlich - stoisch, ungerührt und leidenschaftslos zur Kenntnis genommen. Und die Herausforderung dann akzeptiert :-)
Und bevor sie nun ggf. kommentarweise etwas anders behauptet, sollte sie sich natürlich der Miranda-Warnung erinnern, die auch für mafiöse Schiedsgerichte/Tribunale gilt:
"Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. [..]"
Vom jüngsten Gericht (siehe Offenbahrung des Johannes) ganz zu schweigen...
Jedenfalls beginnt mein Tag folglich früh. Sehr früh.
Um 06:40 Uhr starte ich ohne Frühstück - mit der Wirtin war leider bzgl. Uhrzeit, Thermo-Frühstück oder am Vorabend zubereitetem Picknick in keinster Weise zu verhandeln:
Die Familie ist zu diesem Zeitpunkt bereits eine halbe Stunde unterwegs und ich kann sie später auf dem Weg zum ersten Paß, dem Col de la Colombière aus der Ferne ausmachen:
So langsam kommt die Sonne im Osten über die italienischen Bergspitzen und bis in den Kessel, wo eine große Schafherde die Nacht verbracht hat:
Wie ich später von der Familie erfahre, wurden sie ganz ordentlich von den Herdenschutzhunden angegangen, die zum Weg angerannt kamen und nach den dreien schnappten - zwar nicht ernsthaft zubeißend, aber ausreichend überzeugend, daß sie sich richtig Sorgen machten :-(
Evtl. wirkt meine entspannte und entspannende Ausstrahlung nicht nur auf manche Zwei-, sondern auch auf diese Vier-Beiner ?
Bei mir schlagen sie nur kurz bellend an, bleiben aber an ihren Plätzen um die Herde sitzen bzw. liegen und der eine - mir am nächsten - fängt sogar das Gähnen an, bevor er sich wieder hinlegt !
Welch Ressonanz !
Evtl. halten sie mich aber auch einfach für ein (großes) Schaf ?!
Am Übergang bin ich wieder im Schatten und so lasse ich weiterhin die langen Hosenbeine dran, sowie Mütze auf dem Kopf, Handschuhe an den Fingern und Ski-Shirt am Oberkörper - wollte (und will) ja (im Schatten) nicht wieder so frieren wie am Vortag nach dem Start in Larche.
Im Abstieg nach Saint-Dalmas-le-Salvage hole ich schließlich die Familie ein und überhole sie.
Sie schließen nochmal kurz zu mir auf, als ich die langen/wärmenden Sachen wegpacke, aber dann lege ich wieder einen Zahn zu und lasse das Dorf auch schnell hinter mir, um mich in den zweiten (kleineren) Anstieg des Tages zu begeben.
Gen Col d'Anelle geht es am Ende sanfter hinauf und am Übergang lege ich die erste größere Pause des Tages ein, so daß meine drei heutigen Mitstreiter mich gerade wieder einholen als ich aufbreche.
Im Abstieg gen Saint-Étienne-de-Tinée treffe ich dann eine ganze Herde der hier üblichen, stark behörnten Ziegen mit ganz glattem und leuchtendem Fell:
Ungefähr 600 Höhenmeter geht es nun relativ steil und in der Sonne bergab, teilweise in Form einer Mulateria, wie hier auf dem Foto zurück zu sehen:
Unter mir wuselt es hier auf der Sonnenseite nur so. Als die Anzahl an braunen und grünen Eidechsen innerhalb kürzester Zeit 3-stellig wird, gebe ich die Einzelsichtung/-Zählung schließlich auf:
Kapitulation !
Das kann mir bei der aktuellen Etappe dagegen bestimmt nicht passieren: Ich erinnere mich noch nur zu gut, wie das hier in der Etappen-Unterkunft vor neun Jahren am nächsten Morgen war, als ich kaum mehr als Krümel vorfand, aber nichts, was sich (noch) als (ernsthaftes) Frühstück bezeichnen ließe !
Also ich bin ja nicht nachtragend. Gar nicht. Aber beim Essen hört (definitiv) (spätestens) (garantiert) (todsicher) der Spaß auf !
Ich meine, nach zehn Jahren kann man evtl. mal darüber nachdenken, die Strafe auf lebenslängliche Nicht(be)achtung zu reduzieren. Also quasi nach weiteren 25 Jahren.
Somit könnte ich bereits im Jahr 2049 schon wieder hier absteigen.
War ja nur das Frühstück, bei Abendessen würde ich eher 50 Jahre in Erwägung ziehen...
Der Ort ist (für mich persönlich) also quasi so etwas wie das französische Ferlach: Todeszone. No-Go-Area. Fluchtreiz auslösend.
Gut, daß es von hier auch gleich in die richtige Richtung weitergeht...
Ich hänge also einfach mal noch eine Etappe an, auch wenn diese Bahn mich irgendwie im Stich läßt:
Kurze Zeit später kann ich die Straße (über diese war direktere und schnellere Flucht möglich ;-) auch wieder über eine steile Stiege verlassen...
Im Vergleich zu den letzten Tagen (und Wochen) sind die Anstiege nun hier in den Seealpen deutlich steiler als die sonst üblichen durchschnittlichen 10% (anderweitig meist auf dem GR5: 1.000 Hm auf 10 Kilometer Südhochtalstrecke bis zum Übergang).
Da komme ich jetzt am frühen Nachmittag ganz schön ins Schwitzen.
Aber auch eine andere Sache macht mir noch Sorgen: Ich habe in Roya immer noch niemanden telefonisch erreicht und auch auf meine Nachrichten per Mail/SMS vom Col de la Colombière am Morgen habe ich noch keine Rückmeldung. Somit habe ich keine Ahnung, ob ich in der einzigen Unterkunft im dortigen Weiler überhaupt unterkomme.
Im Retorten-Wintersport-Ort Auron, durch den ich gerade komme, könnte ich zwar evtl. unterkommen, aber das will ja keiner.
Das einzig nette an dem Ort ist die zur Touristen-Information umfunktionierte Kirche, wo auch der Wanderweg direkt rechts dran vorbeiführt:
Jenseits geht es dann durch einen Teil des Skigebiets, der im Sommer als Downhill-Eldorado genutzt wird...
Blick zurück auf den grausigen Ort:
Über mir gleiten die Downhill-Flitzer kraftsparend - quasi in Endlosschleife - nach oben:
Es geht für mich wieder in und durch den Wald und über einen Pfad auf den letzten Übergang des Tages zu.
Aufpassen muß ich allerdings - wie vor neun Jahren - auf die entgegenkommenden Radler:
Die Mountainbiker dürfen hier eigentlich überall endlang düsen, für die Wanderer gibt es dagegen immer dicke, fette Verbotsschilder an jeder Kreuzung der Zweirad-only-Trails.
Schließlich erreiche ich den Col du Blainon, wo mich die Hiobsbotschaft (einmal mehr Bibel-Sprech in der Alltagssprache !) per Mail erreicht, daß das Quartier in Roya voll ist.
Oha, jetzt ist guter Rat nicht teuer (ich könnte ja nach Auron zurückgehen (das widerstrebt aber irgendwie meinem Naturell) und - zu völlig überzogenen Preisen - dort übernachten.
Mmmh, ich lege erstmal eine ausgiebige Pause von einer Stunde ein und versuche, mit den letzten Sonnenstrahlen (es ziehen gerade dicke Wolken auf) meine durchgeschwitzten Sachen zu trocknen.
In Kenntnis der Etappe, ziehe ich nun in Erwägung, mit meiner Notfall-Biwak-Ausrüstung (allerdings weiterhin ohne Iso-Matte) irgendwo wild zu übernachten.
Dürfte auf ca. 1.800 Metern zwar recht kalt (und evtl. naß) werden, aber ggf. komme ich ja in einem der verlassenen/teilweise verfallenen Gebäude im Abstieg unter ?
Nun, die Kirche dürfte schon mal weniger geeignet gewesen sein, wie ich feststelle als ich dort wieder vorbeikomme:
Aber der Kirchturm (samt netter Stage . wie ich finde) steht wie eh und je.
Ein derartiges Hüttchen könnte evtl. geeignet sein, um Schutz für die Nacht zu suchen (und zu finden):
Allerdings denke ich längst im Konjunktiv, denn es gilt ja die (alte) Weitwander-Weg-Weisheit: The trail provides.
Just als ich noch eine vorsichtige Mail an die Unterkunft schicke, ob es nicht doch irgendeine Form von Schlafplatz gibt (diese Hartnäckigkeit habe ich wohl von Andrea geerbt, die uns beide damals auf der Schweizer Alm im genialen Notlager unterbrachte), erhalte ich eine zuvor von dort abgeschickte Nachricht: Ob ich denn evtl. bereits auf dem Weg sei, es gäbe jetzt noch Schlafplätze.
Heureka !
Frechheit (und Dickkopf) siegt !!
Nichts wie ab in den Abstieg zum Ort...
Im alten Schulgebäude werden letztlich noch einige Betten frei sein/bleiben und wir sind abends auch nur 12 Leute beim Abendessen, wovon zwei im Zelt draußen schlafen.
Wie ich von der Familie - dann im Nachhinein - erfahre, wollten eigentlich nicht nur wir vier, sondern auch die beiden älteren Herren Jean und Louis sowie der junge Franzose Adrian eigentlich heute bis Roya gehen.
35 Minuten nach meiner Ankunft beginnt es draußen zu schütten. Gut, daß ich ein (festes) Dach über dem Kopf habe (von heißer Dusche ganz zu schweigen ;-).
Ende gut, alles gut und ich bekomme (nach dem fehlenden) Frühstück ein richtig ordentliches Abendessen mit Linsen. Als Gemüse, Beilage und Hauptanteil des Hauptgerichts.
Erwähnte ich schon, daß ich Linsen LIEBE ?!
Was ein (genialer) Tag.
Da waren's nur noch 5...
Übergänge:
- Col de la Colombière, 2.235m
- Col du Blainon, 2.008m
Begegnungen:
- 1 Reh
- die 3er-Familie
- >> 100 Eidechsen (braune und grüne)
- 1 Esel
Da du mir sowieso jedes Wort im Mund umdrehst und ich diesbezüglich keine Chance habe, vertraue ich darauf, dass die werten Leser dieses Blogs dich zumeist schon länger kennen, als ich dich, und das darum auch richtig einordnen können ;) Und wenn nicht, dann kann ich damit leben, und auch damit, dass du schneller zu Hause bist, als ich. Dafür war ich eher in Venedig, als du in Nizza :p
AntwortenLöschenAch ja, ich vergaß. Ich denke doch, dass du die Schafherde ob ihrer Teilbarkeit durch 3 kontrolliert hast ;) Bei den Eidechsen hast du ja schon geschlampert :p
AntwortenLöschenBei mir war's "Acht – Osem – Otto – Huit"
AntwortenLöschen... und den Tag werd' ich auch nie vergessen:
https://www.vergissmi.net/?p=3786